Überlastetes Pflegepersonal, Ärzt*innen mit wenig Zeit, kaum Eingehen auf die Krankheit und individuelle Bedürfnisse – viele Patient*innen in Krankenhäusern beklagen sich über diese und ähnliche Missstände. Laut dem Statistischen Bundesamt ist trotz steigender Fallzahlen in den letzten 25 Jahren die Zahl der Betten in deutschen Krankenhäusern gesunken, die durchschnittliche Verweildauer von Patient*innen hat sich fast halbiert. Wird in den Kliniken zu viel oder an den falschen Stellen gespart? Welche Folgen oder gar Gefahren kann dies für Patient*innen darstellen? printzip-Redakteur Markus Weber hat mit Rolf Müller vom Deutschen Gewerkschaftsbund gesprochen. Er war Pfleger im Klinikum Fulda sowie Mitglied des Personalrats und des Aufsichtsrats und kann somit Einblick in Abläufe auf der Station als auch in Ursachen und Hintergründe liefern.
printzip: Wie ist die Lage in deutschen Krankenhäusern? Gibt es einen Pflegenotstand? Wenn ja, worauf ist er zurückzuführen?
Rolf Müller: Deutsche Krankenhäuser sind generell unterfinanziert. Das hat verschiedene Gründe, ist aber auch politisch teilweise so gewollt. 2003 wurde das sogenannte Diagnosis
Related Groups-System (deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen, Abkürzung DRG, Anmerkung der Redaktion) eingeführt. Das heißt: Krankenhäuser bekommen nicht mehr anhand der Belegungstage ihre
Vergütung für die geleistete Arbeit, sondern einen Festbetrag pro Fall. Dieses System ist darauf ausgerichtet, immer günstiger zu werden. Es wird häufig Druck ausgeübt auf einzelne
Klinik-leitungen, wirtschaftlich belastbare Zahlen zu liefern.
printzip: Die Einsparungen sind beabsichtigt?
Rolf Müller: Die Politik geht davon aus, dass es zu viele Krankenhausbetten gibt. Insofern ist der ganze Wettbewerb darauf ausgelegt, dass Krankenhäuser, die sich nicht gut genug
organisieren, die Pforten schließen. Die Behandlung war früher ausschließlich daran orientiert, was die jeweiligen Chefärzte vorgegeben haben und in der Regel am Patientenwohl orientiert.
Mittlerweile hat sich das leider leicht geändert.
printzip: Welche Folgen kann diese Umstellung für Patienten haben?
Rolf Müller: Es kommt zum Beispiel häufiger zu sogenannten „blutigen Entlassungen“. Patienten werden sehr bald nach einer OP oder nach einer Behandlung wieder entlassen. Früher
war es so, dass man den Patienten auch einmal übers Wochenende behalten hat. Das tat dem Patienten gut und das Krankenhaus bekam die Tage bezahlt. Mittlerweile ist es so, dass das Krankenhaus
dann ein Minus macht. Es gibt Krankenhäuser, wie das Klinikum Fulda, die sogar eine sogenannte DRG-Ampel betreiben. Die jungen Ärzte sehen dann quasi am virtuellen Grün, Gelb und Rot, dass sie
einen Patienten entlassen müssen. Das führt dazu, dass Patienten dann auch entlassen werden oder zumindest in eine Anschlussheilbehandlung verlegt, aber möglicherweise die Behandlung tatsächlich
noch nicht abgeschlossen ist. Dagegen sollen keine Patienten mehr während der Behandlung verlegt werden, selbst wenn dies medizinisch sinnvoll wäre, zum Beispiel wenn keine Intensivbetten mehr
frei sind, denn das würde den Gewinn schmälern.
printzip: Also ist die Behandlung der Patienten insgesamt schlechter geworden?
Rolf Müller: Aus meiner Sicht und der vieler Kollegen hat sich die Krankenhausbehandlung nach Einführung der DRGs nicht verbessert. Sie geht jetzt beschleunigter, organisierter,
aber teilweise auch nicht mehr auf individuelle Bedürfnisse von Patienten eingehend voran. Wenn das Krankenhaus Gewinne machen soll, muss die Behandlung schnell gehen. Es müssen lukurative Fälle
und viele Privatpatienten behandelt werden. Vor allem alte und chronisch Kranken sind die Verlierer dieses Systems. Es ist keine Zeit für Gespräche oder lange Erklärungen, weil alles
wirtschaftlich durchorganisiert ist.
printzip: Wird am Personal gespart?
Rolf Müller: Weil Krankenhäuser unterfinanziert sind, nehmen sie einen Teil des Geldes, das eigentlich für Pflegepersonal da ist und nutzen es, um Investitionen zu tätigen.
Betriebsmittel, laufende Kosten, Gehälter laufen über die DRGs. Gebäude und die Anschaffung von Großgeräten sollen eigentlich über die Länderhaushalte finanziert werden. Das Problem ist, das
System funktioniert nicht mehr. Die Länder haben kein Geld. Mittlerweile wurde in Hessen umgestellt auf eine pauschale Finanzierung. Die Krankenhäuser werden nicht mehr nach Bedarf gefördert,
sondern bekommen Geld entsprechend eines bestimmten Schlüssels, anhand der Anzahl der Betten oder des Versorgungsgrades. Das Klinikum Fulda hat als Maximalversorger einen hohen Schlüssel, aber
die Mittel sind pauschal. Wenn wir wie jetzt Krankenhausbau stemmen müssen, um wieder eine vernünftige Operationsabteilung zu haben, dann wird entsprechend gespart, zum Beispiel am
Pflegepersonal. Und das merkt der Patient natürlich.
printzip: Gibt es Vorschriften zur Anzahl der Patienten pro Krankenpfleger?
Rolf Müller: Es ist ein ordnungspolitisches Versäumnis, dass es im Krankenhaus keine gesetzliche Vorschrift wie etwa in Seniorenheimen gibt. Wie viel Pflegepersonal ein Träger
einsetzt, ist am Ende der Krankenhausverwaltung überlassen. Das Grundprinzip dort ist sparen, sparen, sparen zu Lasten der Patienten. Es gibt klare Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem
Anstieg der Mortalität in Krankenhäusern beim Einsatz von zu wenig, zu jungem oder zu schlecht ausgebildetem Pflegepersonal belegen.
printzip: Also ist das alles sogar gefährlich für die Patienten?
Rolf Müller: Durch die hohe Belastungssituation in Krankenhäusern kommen viele Kollegen wirklich an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Wenn sie wie im Klinikum Fulda als einzelne
Gesundheits- und Krankenpflegerin Nachtdienst auf einer Station mit 42 Patienten machen, sind sie sofort an ihren Grenzen. Da können sie eigentlich in der Nacht noch nicht mal sicherstellen, dass
niemand stirbt. Es gibt eine ständige Gefährdung der Gesundheit der Patienten und der Beschäftigten durch die Unterbesetzung. Diese Unterbesetzung ist gezielt und sie ist gewollt und das ist der
eigentliche Skandal.
printzip: Wie sieht diese Unterbesetzung genau aus, etwa in Fulda?
Rolf Müller: Es gibt einen Besetzungsschlüssel. Der wird in vielen Fällen leider auch nicht eingehalten, weil er nicht mit einkalkuliert, dass Beschäftigte auch einmal krank
sind. In der Regel bedeutet das für das Klinikum Fulda auf einer durchschnittlichen 38- oder 40-Betten-Station circa 17 Pflegepersonen. Damit muss die Stationsleitung 365 Tage im Jahr drei
Schichten abdecken. Die Regel soll sein: drei Pflegepersonen in der Frühschicht, zwei in der Spätschicht und ein oder zwei in der Nachtschicht.
printzip: Und was wäre Ihrer Meinung nach ein angemessenes Verhältnis von Pflegepersonal zu Patienten?
Rolf Müller: Auf einer Normalstation würde ich sagen eins zu sechs. Dann würde man halbwegs vernünftige, wirklich qualifizierte Krankenpflege leisten können. Man könnte jedoch
einfach auch die von Experten der Bundesregierung ursprünglich geschaffene Pflegepersonalregelung wieder in Kraft setzen.
printzip: Was sagen Sie zum Auslagern von Tätigkeiten des Krankenhauses an externes Personal?
Rolf Müller: Es gibt da ganz bedrohliche Bestrebungen. Eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die früher von Beschäftigten des Klinikums Fulda unter Tarifvertragsbindungen gemacht wurden, wurden
beendet. Das Grundprinzip ist, Kosten zu senken. Dabei wird wenig auf die Qualität und auf gute Arbeit geachtet. Wir wollen ja auch, dass die Beschäftigten, die etwa von Reinigungs- und
Hilfstätigkeiten leben, vernünftig bezahlt werden. Und das passiert eben nicht.
printzip: Hat das Outsourcing auch Konsequenzen für die Patienten?
Rolf Müller: Wir hatten im Klinikum Fulda zum Beispiel eine eigene Wäscherei, die zu wirtschaftlichen Bedingungen gearbeitet hat. Sie ist mittlerweile geschlossen und das Waschen
der Wäsche ist outgesourct an einen externen Wäschereidienst. Die Folge ist, dass jetzt das Bestreben vorherrscht, weniger Wäsche zu haben. Früher wurde jeden Tag mindestens das Stecklaken
gewechselt, auf dem der Genitalbereich des Patienten liegt. Seit es keine Stecklaken gibt, müsste eigentlich bei jedem Patienten täglich der Spannbettbezug gewechselt werden. Das passiert aber
aus Personalknappheit nicht. Es gibt Patienten, die liegen während eines vier- oder fünftägigen Aufenthalts die ganze Zeit in derselben Wäsche. Dafür kommen beim Privatpatienten jeden Tag
Reinigungskräfte und beziehen das Bett frisch und die Privatpatienten haben auch besondere Kissen.
printzip: Also gibt es in der Behandlung von Privat- und Kassenpatienten einen Unterschied?
Rolf Müller: Ich kann klar sagen, dass es zurzeit noch keinen Unterschied in der Pflege gibt. Natürlich ist es so, dass Privatpatienten einen bestimmten Unterbringungsstandard
haben. Sie liegen im Einzel- oder Doppelzimmer und nicht im normalen Dreibettzimmer. Es wird zentral entschieden, welches Bett mit welchem Patienten belegt wird. Das hat zur Konsequenz, dass
Einzel- und Doppelzimmer für kommende elektive Privatpatienten freigehalten werden - wobei es möglicherweise Kassenpatienten gibt, die eigentlich unbedingt ein Einzelzimmer bräuchten, wegen ihrer
Keimbesiedelung oder aufgrund ihres Zustandes. Es kommt auch immer wieder zu sogenannten Außen-
liegern, die nicht auf der jeweiligen Station liegen. Diese sind gefährdeter.
printzip: Was könnte dagegen unternommen werden?
Rolf Müller: Man müsste eine bestimmte Reserve bilden. Aber das System sagt: Ich muss, wenn möglich, 100 Prozent Belegung erreichen - eigentlich immer. Was die Krankenhausleitung
sogar gezielt vermeidet, ist eine Bettensperrung. Wenn zum Beispiel ein Patient mit einer ansteckenden Erkrankung in einem Zimmer gelegen hat, muss es erst mal grundgereinigt werden. Das dauert
seine Zeit, da kann man nicht sofort wieder neu belegen.
printzip: Und was ist die Folge, wenn solch eine Bettensperrung gezielt vermieden wird?
Rolf Müller: Es muss dann eben schneller gehen. Wir hatten im Klinikum eine Bettenzentrale, die wurde geschlossen. Danach wurden die Betten in kleinen Räumen auf den Stationen
von Mitarbeitern der KFD aufbereitet, der tarifvertragslosen Servicetochter des Klinikums Fulda. Das ist natürlich extrem schwierig. Sie müssen die Matratze runternehmen, das Bett richtig an
allen Stellen abwischen, sie machen das alleine. Nach zwei Jahren musste es dann wegen Auflagen des Gesundheitsamtes wieder zentralisiert werden. Früher wurden auch die Matratzen regelmäßig
dampfsterilisiert. Das passiert jetzt gar nicht mehr. Die Matratzen sind in waschbaren Überzügen versehen. Die werden abgewaschen, das war‘s.
printzip: Das Klinikum Fulda wurde 2004 von einem städtischen Eigenbetrieb in eine gemeinnützige Aktiengesellschaft umgewandelt. Was waren die Gründe und die Folgen?
Rolf Müller: Ursprünglich wollte man eine private Aktiengesellschaft als Rechtsform, weil man sagte, da gingen die Entscheidungsprozesse schneller, man müsse keine der kommunalen
Entscheidungsgremien mehr abwarten, sondern könne das quasi betriebsintern regeln. Dem würde ich bis zu einem bestimmten Grad sogar zustimmen. Was ich bemängele an diesem System: Es gibt keine
Nachhaltigkeit mehr in der Vorstandsarbeit. Und faktisch sind wir jetzt weniger am Patientenwohl orientiert. Es wird immer damit argumentiert, das Patientenwohl müsse über allem stehen. Tut es
aber nicht. Was über allem steht, ist das Geld. Es sollen ganz viele Patienten behandelt werden und die Abrechnungen möglichst schnell passieren. Die Vorstände und viele Chefärzte haben
mittlerweile Verträge, die auch Zielvorgaben beinhalten, sie werden also auch am Erfolg gemessen. Und der Erfolg eines Unternehmens, auch eines Krankenhauses, bemisst sich scheinbar nur noch an
der Rentabilität.
printzip: Wäre eine Rückführung in einen städtischen Eigenbetrieb eine sinnvolle Maßnahme?
Rolf Müller: Ich habe gar kein Problem damit, dass das Klinikum Fulda eine Aktiengesellschaft ist. Es muss aber klar sein: wir sind ein kommunales Klinikum, wir haben eine
kommunale Aufgabe und wir haben keine Aktionäre, keinen Shareholder-Value zu befriedigen. Ein Krankenhaus ist nicht dazu da, Profite zu machen. Wenn ein Krankenhaus Profite macht, liegt das auch
daran, dass Patienten falsch behandelt werden.
printzip: Dennoch ist auch eine vollständige Privatisierung des Klinikums Fulda möglich.
Rolf Müller: Politisch wird das im Moment glücklicherweise völlig ausgeschlossen. Das Klinikum ist ein kommunaler Betrieb zu 100 Prozent und soll es auch bleiben. Durchaus gab es
in den letzten Jahren aber Ansätze, wo uns der Vorstand mit Billigung des damaligen Oberbürgermeisters damit gedroht hat, große Teile der Beschäftigten in
tarifvertragslose Töchter auszugliedern, zum Beispiel die Radiologie, das Labor, die Technik und die Küche. Das halte ich für unsozial und kontraproduktiv, weil es die Beschäftigten dauerhaft
unter Ängste setzt.
printzip: Gibt es Unterschiede zwischen privaten Krankenhäusern und solchen im öffentlichen Eigentum?
Rolf Müller: Ich habe als Rettungsassistent eine ganze Reihe von Krankenhäusern über Jahre angefahren - und kann sagen, dass man in vollständig privatisierten Krankenhäusern in
der Regel zum Beispiel keine vernünftige Notaufnahme hat. Notfallpatienten kosten Geld und damit befassen sich private Krankenhäuser ungerne. Und sie versuchen häufiger Patienten nicht
aufzunehmen, die chronisch krank oder älter sind. Was sie betreiben, ist eine „Rosinenpickerei“, indem sie sich auf Geschäftszweige, aus denen eine hohe Rendite rauszuholen ist, spezialisieren.
Rolf Müller ist seit Dezember 2016 Organisationssekretär beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Fulda und Bad Hersfeld. Davor war er 27 Jahre als Gesundheits- und Krankenpfleger in der Anästhesie im Klinikum Fulda beschäftigt, zuvor hatte er dort seine Ausbildung absolviert. Müller war seit 2000 freigestellt, zunächst für Personalratsarbeit, ab 2004 als Betriebsratsvorsitzender und war mehr als acht Jahre Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des Klinikums Fulda. Außerdem war er acht Jahre ver.di-Bezirksvorsitzender in Osthessen. Er ist ehrenamtlicher Richter am hessischen Landesarbeitsgericht, im Verwaltungsausschusses der Arbeitsagentur Fulda / Bad Hersfeld Rotenburg, Mitglied im kommunalen Beirat für das Kreisjobcenter Fulda und Mitglied im Anstaltsbeirat der JVA Fulda.