"Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Alles ist im Umbruch“, schallt es von der Bühne und meint zugleich die Zeit vor 500 Jahren wie die Gegenwart.
Man gebe einem großen Regisseur einen großen Etat, einen großen Spielort, ein großartiges Ensemble und ein großes Thema über eine große Zeit... Dr. Dieter Wedel, der Intendant der Bad Hersfelder
Festspiele, hat zum Lutherjahr einen bemerkenswerten Beitrag abgeliefert. Er hat auch dann, wenn infolge eines Streits nur einen Tag vor der Premiere ein wichtiger Schauspieler abhanden kam, ja
vielleicht gerade deshalb einen Superlativ in die Stiftsruine gebracht. Auf einer sich vielfältig verändernden Bühne mit zwei übergroßen LED-Leinwänden lässt er nicht einen Luther, sondern eine
Dreifaltigkeit auftreten: Maximilian Pulst als Luther, der Überhebliche, Janina Stopper als Luther, der Verzweifelte und Christian Nickel (Foto oben links) als Luther der Reformator und Luther
der Wutbürger.
Er hat aufwändige Einspieler produziert, die mit der Bühnenhandlung kommunizieren. Sie transportieren historische Orte und Ereignisse in die Stiftsruine.
Dr. Wedel hatte angekündigt, was er letztlich liefert: Einen höchst kritischen Blick auf den Menschen Luther. Natürlich erhebt er dabei nicht den Anspruch auf absolut historische Genauigkeit. Ein
selbst noch so begnadeter Regisseur, mit einem mächtigen Etat, kann dies nicht verwirklichen, zumal er, unweigerlich zeitlich begrenzt, ein breites Publikum unterhalten soll. Doch hat Wedel quasi
alle Aspekte zumindest angerissen, welche die Figur Luther in ihrem Kontext zur Geschichte der letzten 500 Jahre erklärt. Und, in der Tat, er stellt den gerade heute oft verklärten Luther als
Egozentriker dar. Luther war demnach machtgierig, korrupt und propagierte ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen mit populistischen Methoden seine diffusen antijüdischen und frauenfeindlichen
Ansichten. Gerade über die Einspieler auf den Leinwänden suggeriert der Intendant, welche negativen Wirkungen Luther bis in die Gegenwart entfaltet. Er zeigt dort und auf der Bühne, welche
Mechanismen heute wie damals funktionieren: „Sie jubeln, auch wenn Du brennst“, spricht Traumbesetzung Robert Joseph Bartl (Foto oben rechts) als Kardinal Thomas Cajetan zum narzisstischen
Luther. Und Claude-Oliver Rudolh, der den Dominikaner Johann Tetzel spielt, bringt sein ewig geltendes berühmtes Zitat zum Ablasshandel: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer
springt.“
Wedel blendet dabei nicht die positiven Einflüsse insbesondere auf die zu Luthers Zeit übermächtige römische Kirche aus. Luther war der Reformator und ein wesentlicher Veränderer der Welt. Auch
wenn er sich nicht nur eigener Thesen bediente und auch weil er trotz seiner menschlichen Schwächen bis heute zur überhöhten Galionsfigur stilisiert wird. Selbst Luthers Verdauungsprobleme
bleiben nicht unerwähnt.
Das, was das Publikum der Bad Hersfelder Festspiele mit Luther geboten bekommt, ist sicherlich kein leichter Tobak. Der Intendant biedert sich nicht dem Mainstream an, macht keine platte
Unterhaltung, sondern fordert seine Zuschauer*innen heraus. Er hat das Privileg, dabei aus dem Vollen zu schöpfen, Geld in die Hand zu nehmen, bekannte Namen in kleinen Rollen zu besetzen,
niemandem nach der Pfeife tanzen zu müssen und sein ganz persönliches Bild von Luther darstellen zu können. Den Stoff hat Wedel tief recherchiert, intensiv aufbereitet und provokativ
umgesetzt.Trotz großem Aufwand bleibt es wenig effekthascherisch. Die teils neuzeitlichen Kostüme und Bühnenbilder, symbolisieren die Zeitlosigkeit und Gegenwärtigkeit des Themas.
Dass ihm im Vorfeld ein optisch und vielleicht sogar von den Wesenszügen her passender Darsteller abhanden kam, schmälert nicht im Geringsten das Ergebnis. Es wirkt so, als hätte der Vorfall das Ensemble geradezu angespornt, noch größeres Theater abzuliefern. Die Darsteller sind dabei außerordentlich engagiert und lassen die Zuschauer*innen nicht spüren, dass hinter der Bühne ein Drama abgegangen ist. Stand die Premiere wirklich auf der Kippe? „Manchmal ist Angst zu haben, auch ein guter Schutz“, sagte Hans Diehl als Generalvikar im Stück. Wie treffend.
Text: Timo Schadt
Fotos: Timo Schadt und Markus Weber