Länder wie Indien und Mexiko schwören auf die Schärfe der Chilischote. Doch warum ist sie dort eigentlich so beliebt? Genau, sie tötet Keime, aber sie hat noch einen anderen willkommenen Effekt.
Eine bahnbrechende Entdeckung der Hochschule Fulda entzückt die Food-Journalisten. Da hat eine Ernährungswissenschaftlerin doch im Rahmen einer Doktorarbeit herausgefunden, dass die Schärfe von Chili durch Mascarpone ab-geschwächt werden kann. Wer sich die Finger nicht bekleckern will, schmiert den Doppelrahmfrischkäse am besten auf eine Scheibe Toastbrot.
Angeblich soll die Lebensmittelindustrie bereits großes Interesse an dieser famosen Entdeckung signalisiert haben. Das ist wohl frei erfunden, denn bisher wusste jede Hausfrau, wie man eine Überdosis Chili im Essen korrigiert: Durch eine Extraportion Crème fraîche oder Sahne. Falls es im Mund brennt, hilft Sahneeis, weil es zusätzlich kühlt. Wenn es für die Verwendung von Mascarpone statt Crème fraîche einen Doktortitel an deutschen Hochschulen gibt, dann sollte die Erkenntnis, dass Mineralwasser nass ist, allemal für eine Professur reichen.
Natürlich wirft die Chilischote auch interessante Fragen auf: Warum beispielsweise fand das Gewürz, das Christoph Kolumbus aus der Neuen Welt als Ersatz für den sündteuren Pfeffer mitgebracht hatte, jahrhundertelang in der europäischen Küche so wenig Anklang? Dafür breitete es sich rasend schnell in Afrika und Asien aus und wurde integraler Rezepturbestandteil traditioneller Gerichte. Und das, obwohl es dort längst wunderbare scharfe Gewürze gab.
Die populärste These besagt, dass scharfes Essen gegen Parasiten und Keime hilft, was in Regionen mit unzureichender Hygiene von Vorteil ist. In der Tat lassen sich mit Chili üble Keime abtöten, die schwere Lebensmittelvergiftungen hervorrufen wie Bacillus cereus oder das lebensbedrohliche Clostridium botulinum. Auch giftbildende Schimmelpilze werden davon in Schach gehalten. Wirksam sind aber nicht wie erwartet die Scharfstoffe, sondern bittere Saponine, die die Zellmembran der Mikroorganismen schädigen.
Die auffälligste Gemeinsamkeit der Länder, in denen Chili heute zu den Grundnahrungsmitteln zählt, ist nicht der Hygienestatus, sondern ihr heißes, tropisches Klima. Genau darin liegt das Geheimnis der scharfen Schoten: Sie helfen, die Körperinnentemperatur zu senken – und verschaffen uns, ähnlich wie ein kühles Eis in der Sommerhitze Erleichterung. Dieser Chili-Effekt erscheint auf den ersten Blick etwas paradox, denn im Mund wirkt es alles andere als kühlend.
Die Rezeptoren im Mund, die auf die Scharfstoffe der Chilischote ansprechen, haben normalerweise eine ganz andere Aufgabe: Sie warnen vor zu hohen Temperaturen. Deshalb scheint der Mund förmlich zu brennen. Dieser unangenehme Eindruck soll den Körper aber nicht vor feurigen Currys schützen, sondern vor Überhitzung im Inneren. Es geht dabei um die metabolische Wärme, die unser Stoffwechsel, unsere Organe selbst produziert. Übersteigt die Innentemperatur des Körpers 42 Grad Celsius, besteht Lebensgefahr. Deshalb muss die metabolische Wärme abgeleitet werden. Das ist bei hohen Außentemperaturen gar nicht so leicht.
Werden diese Rezeptoren aktiviert, setzen Mechanismen zum Abkühlen des Körpers ein: Die Haut wird stärker durchblutet, und wir beginnen zu schwitzen. Die Durchblutung hilft, die Wärme nach außen abzuleiten, der Schweiß kühlt beim Verdunsten. Injiziert man Ratten die Scharfstoffe, weiten sich die Blutgefäße und die Stoffwechselrate sinkt. Es folgt ein lang anhaltendes Absinken der Körpertemperatur. Eine Überdosis kann sogar zum Tod durch Unterkühlung führen.
Chili macht das Leben bei hohen Außentemperaturen erträglicher. Diese Fähigkeit ist der Grund für seine Beliebtheit in den Tropen. Natürlich lieben auch wir Mitteleuropäer scharfe Gewürze wie Meerrettich, Zwiebeln oder Senf. Doch deren Wirkstoffe reagieren mit den Kälterezeptoren. Sie signalisieren unserem Körper, dass er Maßnahmen zur Temperaturerhöhung einleiten soll. Nach einer solchen Mahlzeit wird uns wohlig warm. Deshalb ist in unseren Breiten vor allem in der kühlen Jahreszeit der Senf zur Wurst beliebter als Chilisoße. Mahlzeit!
Zum Autor:
Udo Pollmer ist Lebensmittelchemiker und Fachbuchautor zur Ernährung, er war mehrere Jahre lang Lehrbeauftragter für Haushalts- und Ernährungswissenschaften an der Fachhochschule Fulda und ist heute wissenschaftlicher Leiter des Europäisches Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e. V. (EU.L.E. e. V.)
Quelle: Deutschlandradio, Sendung vom 10.10.2014 /
www.deutschlandradiokultur.de/gewuerz-das-chili-geheimnis.2165.de.html?dram:article_id=299917
Literatur:
- Anon: Chili-Forschung: Mascarpone hilft am besten gegen Schärfe-Schock. Spiegel Online 5.9.2014
- Perske J: Was gegen den Schärfe-Schock von Chili hilft. Welt Online 5.9.2014
- Anon: Die Chili-Forscherin Désriée Schneider geht der Schote mit Mascarpone-Toast an die Schärfe. Bild Online 5.9.2014
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